Die Antragstellerin betreibt eine Prostitutionsstätte in Karlsruhe. Sie wendet sich gegen die Schließung ihres Betriebs durch die Corona-Verordnung. Die vollständige Untersagung aller sexuellen Dienstleistungen verstoße in der gegenwärtigen Lage gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Sie beabsichtige im Erfolgsfall nur erotische Massagen und sexuelle Dienstleistungen im BDSM-/Domina-Bereich ohne Geschlechtsverkehr zuzulassen und das „Hygienekonzept für erotische Dienstleistungen in Bezug auf die Covid19-Präventuion“ des Berufsverbandes erotische und sexuelle Dienstleistungen e.V. einzuhalten.
Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten. Ziel der sexuellen Dienstleistungen sei stets die Herbeiführung einer sexuellen Erregung des Kunden. Diese gehe mit einem verstärkten Aerosolausstoß in geschlossenen Räumen einher. Der Verordnungsgeber sehe die Infektionsgefahr, die von einer Öffnung des Betriebs von Prostitutionsstätten ausgehe, zum gegenwärtigen Zeitpunkt weiterhin als nicht beherrschbar an. Die Zahl der Neuinfektionen steige derzeit bundes- und landesweit in besorgniserregendem Umfang an. Es könne kein „Weiter so“ mit Lockerungsmaßnahmen geben. Die Sicherstellung der Nachverfolgung von Infektionsrisiken sei von zentraler Relevanz. Eine schnelle, zuverlässige und lückenlose Rückverfolgung von Infektionsketten über die Erhebung von Kundendaten sei in Prostitutionsstätten aber weiterhin lebensfremd. Die Erfahrungen der vergangenen Monate hätten gezeigt, dass die Durchsetzung von dahingehenden Pflichten schwierig sei, weil Besucher von Restaurants teils Fantasienamen angegeben hätten.
Der 1. Senat des VGH hat dem Antrag stattgegeben. Zur Begründung führt er aus: Das Verbot des Betriebs von Prostitutionsstätten sei wegen des sehr engen Körperkontakts bei sexuellen Dienstleistungen und der damit verbundenen gesteigerten Atemaktivität sowie den Schwierigkeiten der Nachverfolgung von Infektionsketten im von Diskretion geprägten Erotikgewerbe bisher nicht zu beanstanden gewesen (vgl. Pressemitteilung Nr. 31 vom 09.06.2020). Das Verbot, das einzelfallunabhängig und nahezu ohne Ausnahmemöglichkeit gelte und seit knapp sieben Monaten in Kraft sei, sei inzwischen jedoch unverhältnismäßig.
Der Antragsgegner verfolge den Schutz von hochrangigen Rechtsgütern. Das Betriebsverbot diene dazu, Gefahren für das Leben und die körperliche Unversehrtheit einer potenziell großen Zahl von Menschen abzuwehren. Den von dem Antragsgegner verfolgten Eingriffszwecken komme nach wie vor ein sehr hohes Gewicht zu. Das Gericht gehe insbesondere davon aus, dass die Gefahren, deren Abwehr die angefochtene Vorschrift diene, weiterhin bestünden und sich ohne auch normative Gegenmaßnahmen in kurzer Zeit exponentiell vergrößern könnten.
Auch unter Berücksichtigung dieses hohen Gewichts steht der Eingriffszweck im gegenwärtigen Zeitpunkt gleichwohl nicht mehr in einem angemessenen Verhältnis zu der mit der Vorschrift verursachten Eingriffsintensität. Der Eingriff in die Berufsfreiheit der Antragstellerin wiege außerordentlich schwer. Es handele sich um ein Totalverbot, das keine Ausnahmen zulasse und seit der ersten Corona-Verordnung vom 16. März 2020 gelte. Aktuell sei ein erneuter Anstieg der Übertragung des Coronavirus in der Bevölkerung zu beobachten. Dies rechtfertige es zweifellos, weiterhin auch normative und mit Grundrechtseingriffen verbundene Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie zu ergreifen. Fallhäufungen bei Infektionen kämen nach Erkenntnissen des Robert Koch-Instituts insbesondere im Zusammenhang mit Feiern im Familien- und Freundeskreis sowie unter anderem in Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern, Einrichtungen für Asylbewerber und Geflüchtete, Gemeinschaftseinrichtungen, verschiedenen beruflichen Settings und im Rahmen religiöser Veranstaltungen sowie in Verbindung mit Reisen bzw. Reiserückkehrern vor. Es sei vom Antragsgegner jedoch nicht substantiiert dargelegt, dass sich Prostitutionsstätten in vergleichbarer Weise typischerweise zu „Superspreadern“ entwickeln. Für Letzteres sei - auch mit Blick auf die in anderen Bundesländern bereits seit geraumer Zeit erfolgte Wiederöffnung solche Betriebe - derzeit auch sonst nichts erkennbar. Das gelte umso mehr, als die Erbringung von sexuellen Dienstleistungen in der Regel auf die Anwesenheit von zwei Personen beschränkt sei und einen begrenzten Zeitraum umfasse, womit sie sich jeweils von Konstellationen wie Feiern in Familienkreis oder anderen Großveranstaltungen unterscheide.
In Prostitutionsbetrieben würden im Falle der Wiedereröffnung mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit infektionsschutzrechtliche - nicht zuletzt mit Blick auf die Kontaktdatenerfassung spezifische - Gefahren entstehen. Diese Gefahren könnten Maßnahmen des Verordnungsgebers unterhalb der Schwelle zu einem vollständigen und ausnahmslosen Verbot rechtfertigen. Als geeignete, erforderliche und angemessene Maßnahmen kämen insoweit insbesondere normative Vorgaben zur Aufstellung und Umsetzung von nachprüfbaren Hygienekonzepten sowie insbesondere zur möglichst effektiven und kontrollierbaren Erfassung von Kundendaten, Letzteres möglicherweise durch die Schaffung einer Rechtsgrundlage zur Kontrolle und Erfassung von Personalausweisen durch Betreiber oder gegebenenfalls Verwendung von geeigneten Apps.
Der Beschluss ist unanfechtbar (Az. 1 S 2871/20).